Macht Personalnot erfinderisch? − Perspektiven und Lösungsansätze zum Fachkräftemangel
Dokumentation der Fachtagung vom 27. Juni 2024
Kinder- und Jugendhilfe, Pflege und Eingliederungshilfe im Austausch
Der Personalmangel im gesamten sozialen Sektor hat sich zur Krise ausgewachsen. Einrichtungen der Behindertenhilfe und Pflegeeinrichtungen müssen ganze Stationen oder Dienste schließen. Kindertageseinrichtungen sehen sich gezwungen, Betreuungszeiten einzuschränken oder Gruppen zu vergrößern, Unterbringungsplätze für gefährdete Kinder- und Jugendliche sind rar, und auch Fachkräfte im öffentlichen Dienst wie z.B. im Allgemeinen Sozialen Dienst der Jugendämter lassen sich zunehmend schwerer finden.
Der Aufgabe, Strategien im Umgang mit dem Fachkräftemangel sektorübergreifend für das gesamte Feld sozialer Berufe in den Blick zu nehmen, stellten sich die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. im Rahmen einer gemeinsamen Fachtagung und unter Einbeziehung von Praxis und Wissenschaft am 27. Juni 2024 in Berlin.
Für die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte begrüßte die Projektleiterin Prof. Dr. Fuchs-Rechlin und ging zunächst auf aktuelle Entwicklungen bei der Personalsituation in der Kindertagesbetreuung ein. Trotz jahrelanger bundesweiter Zuwächse bei Ausbildung und Beschäftigung zeichne sich für die kommenden Jahre in den westlichen Bundesländern eine dramatische Fachkräftelücke ab, die selbst bei positiven Prognosen nicht durch die Zahl der Ausbildungsabgänger/innen gedeckt werden könne.
Für den Deutschen Verein begrüßte die Geschäftsführerin Nora Schmidt und bedankte sich bei den Teilnehmenden für die Bereitschaft zum Blick über den Tellerrand. Der Fachkräfte- Personalmangel betreffe längst nahezu gesamte soziale Infrastruktur. Es sei daher zwingend notwendig, bereichsübergreifend zu erörtern, welche kurz-, mittel- und langfristigen Ansätze zur Bewältigung des Personalbedarfs im sozialen Sektor greifen und inwiefern die einzelnen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, der Pflege und der Eingliederungshilfe voneinander lernen und sich gemeinsam für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen im sozialen Sektor stark machen können. Eine realistische Bestandsaufnahme sowie Strategien, die das gesamte Spektrum sozialer Einrichtungen und Dienste in den Blick nehmen, seien angesichts der Dramatik der Personalsituation mehr denn je gefragt.
Blitzlichter aus der Praxis
Das moderierte Gespräch „Blitzlichter aus der Praxis“ gewährte exemplarisch erste Einblicke in konkrete Auswirkungen der Personalengpässe sowie Strategien gegen den Fachkräftemangel:
„Jugendhilfeträger und Jugendamt müssen in Zukunft noch enger zusammenrücken, um in Zeiten fehlender Fachkräfte überhaupt noch ein bedarfsgerechtes Angebot sicherstellen zu können. Wir bewegen uns in einer Zeit, wo wir unsere Leistungen umstrukturieren müssen, wo sich Arbeit verändert, und die Frage ist, wie nehmen wir die Leute mit. Wichtig ist neben verlässlichen Strukturen die Frage der Motivation und des Sinns, da braucht es ganz viel Kommunikation. In den letzten Jahren hatten wir so viel Krise und so viel Durchhalteparolen, daher muss man als Führungskraft auch eine Linie mitbringen und sagen können, wo geht’s hin, wie können wir aus der Krise herauskommen.“
Matthias Röder, Jugendamt Darmstadt-Dieburg
„Die Menschen, die bei uns in der Pflege arbeiten, und auch die Kunden, die bei uns versorgt werden, die brauchen von uns als Träger eine Perspektive. Und die Perspektive ist nicht, dass wir uns hinsetzen und klagen, wie schlecht die Rahmenbedingungen in der Branche sind, sondern die Perspektive muss doch sein, was können wir als Unternehmen gemeinsam mit den Mitarbeitenden und unseren Kund/innen gestalten. Ich glaube, dass wir im Rahmen der Bedingungen, die wir gesetzlich haben, noch ganz viele Gestaltungsmöglichkeiten haben, die wir nicht ausgeschöpft haben. Wenn man zum Beispiel die Mitarbeitenden fragt, fühlt Ihr Euch wertgeschätzt, wie wir es vor zwei Jahren getan haben, dann sagen die: „Geht so. Wir wollen das ehrlich gemeinte Interesse des Vorgesetzten an unserer Person und an unserer Arbeit, das ist für uns Wertschätzung.“ Also gehen wir hin zu den Mitarbeitenden, interessieren uns für ihre Arbeit und lassen die Impulse der Mitarbeitenden in unsere Unternehmensstrategie einfließen.“
Christian Potthoff, Diakonie Michaelshofen
„Mit spannenden innovativen Konzepten gewinnen wir auch gerade jüngere Menschen. Für die Zukunft wichtig ist das Arbeiten über das Leistungsrecht hinweg. Leben mit Behinderung erbringt Leistungen aus einer Hand: Die Menschen bekommen Eingliederungshilfe und Leistungen der Pflege und wir binden auch die Professionen miteinander zusammen. Ganz wichtig sind auch gerade für die jungen Leute verlässliche und verbindliche Dienstpläne. Und wir bieten Ausbildung an: die Pflegefachausbildung, die Ausbildung für Heilerziehungspflege sowie duale Studiengänge Soziale Arbeit. Für Menschen aus anderen Bundesländern bieten wir beispielsweise ein erstes Gespräch per Zoom an und, so sie als Mitarbeitende zu uns kommen, Wohnungen, die wir in Hamburg anmieten. Mit vereinten Kräften ist es uns gelungen, die Zahl der fehlenden Mitarbeiter/innen (und das sind ja nicht nur Fachkräfte) zu halbieren.“
Brigitte Buermann-Gerdes, Leben mit Behinderung Hamburg
Personalbemessung und Einsatz von Fach- und Assistenzkräften: Aktuelle Entwicklungen am Beispiel Pflege und Kindertagesbetreuung
In allen sozialen Arbeitsfeldern viel diskutiert ist die Frage nach einer korrekten, an den jeweiligen Anforderungen und Aufgaben orientierten Personalbemessung sowie nach einem angemessenen Einsatz von Fach- und Assistenzkräften. Verbunden ist diese Debatte regelmäßig mit dem Ringen um eine an fachlichen Standards, den Bedarfen der Adressat/innen sowie den Realitäten des Arbeits- und Ausbildungsmarktes orientierte Umsetzung der Fachkräftegebote der verschiedenen Sozialgesetzbücher.
In Bezug auf die stationäre Langzeitpflege ist der Bundesgesetzgeber bereits einen Schritt weiter gegangen: Für den Einsatz von Fach- und Assistenzkräften wurden bundesweit einheitliche Kriterien entwickelt und eine entsprechende gesetzliche Regelung geschaffen.
Vortrag: Woher kommt und was bringt das neue Personalbemessungsinstrument in der Pflege?
In einem ersten Vortrag stellte daher Prof. Dr. Heinz Rothgang Hintergründe und Umsetzungsstand des seit 2023 bundesgesetzlich neu geregelten Personalbemessungsinstrumentes in der stationären Langzeitpflege vor. Als Leiter der sogenannten Forschungsgruppe Rothgang hat er das Personalbemessungsinstrument wesentlich mit entwickelt, und als Leiter des Modellprogramms Entwicklung und Erprobung eines Konzepts zum qualifikationsorientierten Personaleinsatz in der Stationären Langzeitpflege begleitet er die Umsetzung des Gesetzes an verschiedenen Modellstandorten. Ausgangssituation war die verbreitete Wahrnehmung personeller Unterbesetzung in der stationären Langzeitpflege bei teilweise sehr unterschiedlicher Personalausstattung. Basierend auf der systematischen Beobachtung und Beschreibung einzelner Kernprozesse wurde daher im Rahmen eines ersten Forschungsprojektes ein Algorithmus entwickelt, der in Abhängigkeit vom Pflegegrad der Bewohner den Personalbedarf einer Einrichtung an Pflegefachkräften, Pflegefachassistenten und Pflegehelfern bestimmt. Bundesweit angewandt wurde so ein durchschnittlicher Mehrbedarf an Personal in der stationären Langzeitpflege von etwa 30 % ermittelt, und zwar überwiegend im Bereich ausgebildeter Assistenzkräfte. Auf dieser Grundlage wurde die seit Juni 2023 gültige bundeseinheitlichen Regelung zur Refinanzierung von Personal in Pflegeeinrichtungen eingeführt, die es Einrichtungen stufenweise ermöglicht, Personal im Umfang des ermittelten Bedarfes zu refinanzieren. Ergebnis der Untersuchung war außerdem, dass Aufgaben überwiegend nicht kompetenzorientiert, sondern eher zufällig von Mitarbeiter/innen verschiedener Qualifikationsniveaus ausgeführt wurden. In einem weiteren bundesweiten Modellprojekt wird daher an in 10 Modellstandorten eine kompetenzorientierte und bewohnendenzentrierte Arbeitsorganisation entwickelt, eingeübt und evaluiert.
Vortrag: Fachkräfte-Assistenzkräfte-Mix in der Kindertagesbetreuung – Welche Wege gehen die Länder?
In einem zweiten Vortrag zeigte Prof. Dr. Tina Friederich von der katholischen Stiftungshochschule München auf, welche Strategien der Personalgewinnung und -bindung frühpädagogischen Personals in den letzten Jahren in den verschiedenen Bundesländern zu beobachten waren. Derzeit ließen weder die Öffnung der Fachkräftekataloge der Länder für verschiedene Berufe und Qualifikationsstufen noch die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland noch die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten noch relevante Aufwüchse erwarten. Die zahlenmäßig relevanteste Steigerung beim Personal lasse sich derzeit bei der Einbindung fachfremden Personals für nicht erzieherische Aufgaben (insbesondere Hauswirtschaft) beobachten. Damit verbunden seien aber erhebliche Herausforderungen für eine qualifikationsangemessene Verteilung der Aufgaben und die Zusammenarbeit im Team.
Workshops Voneinander lernen – gemeinsam weiterdenken:
Die Arbeitsfelder Kinder- und Jugendhilfe, Pflege und Eingliederungshilfe im Austausch
Workshop Personalgewinnung – Konzepte und Instrumente: Wie können Zugänge diversifiziert und Qualifizierungswege erleichtert werden?
Gitta Bernshausen, Vorständin des Trägers Sozialwerk St. Georg Gelsenkirchen, stellte Herausforderungen bei der Personalgewinnung im Handlungsfeld Eingliederungshilfe vor. Die Eingliederungshilfe unterstütze Menschen mit psychischen und physischen Beeinträchtigungen aller Altersgruppen und sei ein sich ausweitender Markt bei gleichzeitig geringen Steuerungsmöglichkeiten. Stellenweise sei der Versorgungsanspruch aufgrund von Personalmangel gefährdet. Mit verschiedensten Maßnahmen werde derzeit versucht, die Personallücke zu schließen und neues Personal zu gewinnen: Neben fachlich einschlägig qualifizierten Fachkräften, würden Quereinsteiger/innen und Fachkräfte aus dem Ausland durch barrierearme Weiterqualifizierungsmaßnahmen gewonnen. Oftmals erfolge die Einarbeitung über Training on the Job. Stellenweise würden auch Mitarbeiter/innen aus Zeitarbeitsfirmen eingesetzt. Eine arbeitsteilige Zusammenarbeit von Fach- und Assistenzkräften werde als hilfreich erlebt. Bei ungünstigen Dienstzeiten z.B. im Falle von pflegenden Angehörigen würden auch stundenweise Arbeitsformate für Mitarbeiter/innen angeboten. Für bestimmte Dokumentationsaufgaben werde KI eingesetzt. Entscheidend für eine erfolgreiche Personalgewinnung und -bindung sei es, die Arbeitgebermarke herauszustellen, d.h. deutlich zu machen, für welche Bilder und Arbeitweisen die Eingliederungshilfe stehe. Es gehe um „Glaubwürdigkeit“ und „Werte“, die nach außen sichtbar gemacht werden müssten. Zugleich müsse die Qualität der Arbeitgeberorganisation transparent gemacht und die neuen, aber auch bereits tätigen Mitarbeiter/innen darin bestärkt werden, auf ihre Arbeit stolz zu sein.
Xenia Roth, stellvertretende Leiterin der Abteilung Frühkindliche Bildung, Ganztag u. schulische Unterstützungsangebote für die Referatsgruppe Frühkindliche Bildung im Rheinland-pfälzischen Bildungsministerium führte aus, dass auch in der Kindertagesbetreuung in Rheinland-Pfalz ein großer Mangel an Fachkräften und weiterem Personal herrsche. Gekennzeichnet sei das Feld durch eine enorme Trägervielfalt, teils geprägt durch ehrenamtliche Strukturen, kleine - und Kleinstträger, teils durch große hoch professionalisierte Träger. Verantwortlich für die Rahmensetzung seien die Länder auf der Grundlage des SGB VIII, verantwortlich für die konkrete Angebotsausgestaltung seien die Kommunen und Träger. Neben den bereits für die Eingliederungshilfe benannten Personalgewinnungsmaßnahmen werde aktuell für die Kindertagesbetreuung die Neugestaltung bzw. einheitlichere Gestaltung der Erstausbildung diskutiert, um die Assistenzberufe besser zu konturieren, sie damit attraktiver zu gestalten und neue Zielgruppen für die Arbeit in Kindetageseinrichtungen zu gewinnen. Erforderlich seien zudem die Etablierung und Sichtbarmachung von Karrierewegen.
Die Teilnehmenden diskutierten kritisch, ob die skizzierten Maßnahmen tatsächlich ausreichen, die akute Personalkrise zu lösen. Social Media solle stärker genutzt und Mitarbeitende sollten stärker eingebunden werden, beispielsweise bei möglichen Imagekampagnen. Nötig sei zudem, proaktiv Personal aus dem Ausland zu gewinnen. Außerdem müsse geprüft werden, inwieweit bereits ausgeschiedenes Personal wieder zurückgewonnen werden könne. Für eine Reduzierung der Teilzeitquote seien attraktive Rahmenbedingungen notwendig, beispielsweise eine verlässliche Ferienbetreuung für die Kinder von Mitarbeitenden. Insgesamt sei die Organisationskultur entscheidend, sowohl der Ausbildungsstätten als auch der Träger und Einrichtungen.
Leitende Frage bei den Personalgewinnungsmaßnahmen müssten die Bedürfnisse und Bedarfe der Adressat/innen der jeweiligen Leistungsangebote sein. Daher sei wichtig, nicht ausschließlich die unteren Qualifizierungsstufen in den Blick zu nehmen, sondern ebenso die hochschulischen Ausbildungen. Teils sei in Jobcentern aber auch bei Trägern nicht hinreichend bekannt, wer mit welcher Qualifizierung für welche Aufgabe eingestellt werden könne. Hier bestehe entsprechender Fortbildungsbedarf.
Es seien zudem ggf. durch Personalabbau in anderen Branchen entstehende Personalkapazitäten in den Blick zu nehmen und zielgruppenspezifische Gewinnungsstrategien zu entwickeln. Angesprochen wurde auch die aktuelle Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht bzw. die Einführung eines sogenannten verpflichtenden Gesellschaftsjahres. Mit Blick auf die möglicherweise damit verbundene Ausweitung des Freiwilligen Sozialen Jahres bestehe auch hier Personalgewinnungspotential.
In Bezug auf Auszubildende / Studierende wurde von mancherorts hohen Abgängen nach dem ersten Ausbildungsjahr / Studienjahr berichtet. Hier müssten Ursachenforschung betrieben und Haltestrategien entwickelt werden. Praxisintegrierende Formate hätten sich bewährt und seien ein geeignetes Instrument für die Anstellungsträger, sich als zukünftige Arbeitgeber bekannt zu machen. Ergebnisoffen diskutiert wurde auch die Möglichkeit der Dualisierung von Ausbildung und Studium und die damit einhergehende größere Verantwortung von Trägern für die Aus- und Weiterbildung.
Workshop Entlastungspotenziale – Angebotssteuerung und Aufgabenkritik: Was muss anders geleistet werden, was kann wegfallen?
Wo einerseits die Potentiale der Gewinnung und Bindung von Arbeitskräften an Grenzen stoßen und andererseits Bedarfe steigen, bzw. auf hohem Niveau verharren, stellt sich die Frage, wie die soziale Infrastruktur gleichwohl erhalten werden kann.
Ines Henke, Beigeordnete für Soziales, Gesundheit, Kinder- und Jugendhilfe sowie Arbeitsmarkt beim Niedersächsischen Landkreistag zeigte auf, wie im Land Niedersachsen Weichen gestellt werden, um durch ein Flexibilisierung von Standards sowie Entbürokratisierung auf kommunaler und Landesebene Freiräume zu gewinnen und die soziale Handlungsfähigkeit zu erhalten: So seien in den Hilfen zur Erziehung und der Kindertagesbetreuung die Möglichkeiten, Assistenzkräfte und Personen mit anderen Ausbildungen zu beschäftigen, teils befristet, in mehreren Schritten erweitert worden. Gleichzeitig werde für die Berufe Erzieher/in, Heilerziehungspfleger/in und Pflegefachkraft geworben, Assistenzausbildungen und Quereinstiege würden gefördert. Insgesamt gehe es um den Dreiklang Personalgewinnung/-bindung, Flexibilisierung von Standards sowie Entbürokratisierung und eine ‚Politik des Machbaren‘ bei der Leistungserbringung.
Eine ressourcenorientierte Leistungserbringung war Thema des Inputs von Matthias Röder, Leiter des Jugendamtes Darmstadt-Dieburg. Jugendämter befänden sich in dem Dilemma, für die Gewährleistung der Leistungen verantwortlich zu sein, jedoch (perspektivisch) nicht genug (personelle) Mittel haben, um das jetzige Leistungssystem bedarfsgerecht zu gestalten. Entlastung könne eine Abkehr vom derzeitigen hochsegregierten einzelfallorientierten Hilfesystem und eine Hinwendung zu einer Leistungserbringung in Kombination mit gruppenbezogenen Angeboten und kooperativen, multiprofessionellen und lebensweltnahen Konzepten bringen. Über kooperative Systeme, wo Träger sich gegenseitig „belegen‘ können, sei es aus seiner Sicht möglich, mit insgesamt weniger Personal Hilfen in der gebotenen Ausdifferenzierung lebensweltnah und in der Fläche zu organisieren und somit den vielen unterschiedlichen komplexen Problemlagen gerecht zu werden. Ein Beispiel für eine modulhafte kombinierte Angebotsgestaltung für junge Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen stellte Herr Röder vor. Voraussetzung sei auf kommunaler Ebene der Ausbau institutionsübergreifender kooperativer Leistungen auf Basis angepasster Leistungsvereinbarungen und Finanzierungsmodelle. Auf Länder- bzw. Bundesebene wäre eine Erweiterung des Leistungsrechtes hilfreich und andererseits konzeptionelle Unterstützung, damit nicht jedes Jugendamt für sich allein diese komplexe Aufgabe lösen müsse.
Präsentation von Matthias Röder
Gefragt nach der konkreten vertraglichen Umsetzung führte Herr Röder aus, es handele sich nicht um eine sozialraumbezogene, sondern um eine fallbezogene Budgetierung, also um Einzelfallhilfen, die in einem bestimmten Umfang fallübergreifende und fallunspezifische Leistungen enthalten.
In der anschließenden Diskussion wurde die Parallele zur Eingliederungshilfe gezogen, wo nach dem BTHG bereits heute die Notwendigkeit besteht, dass sich die örtlichen Träger vernetzen, um eine bedarfsgerechte Zusammenstellung von Hilfen über die unabhängige Teilhabeberatung zu ermöglichen.
Schon heute existierten Spielräume, um Versäulungen aufzulösen und kombinierte Leistungen anzubieten. Diese müssten allerdings proaktiv genutzt werden. Eine konkrete Möglichkeit sei die überregionale Kooperation bei bestimmten Leistungen.
Die Kooperationsfähigkeit der Träger untereinander vor Ort herzustellen, innerhalb der jeweiligen SGBs, aber auch übergreifend, sei eine große Herausforderung, die Unterstützung durch Bund und Länder brauche, sowohl bei den Rahmenbedingungen als auch bei der Evaluation. Als Beispiel wurde die von Frau Henke vorgestellte zeitlich befristete und mit Evaluation hinterlegte Flexibilisierung der Fachkraftkataloge in der Kindertagesbetreuung in Niedersachsen genannt.
Außerdem könne es gewinnbringend sein, junge Menschen und Eltern zu beteiligen, auch bei der Frage, wie mit weniger Personal das Leistungssystem umgebaut werden könne, welche Prioritäten gesetzt und welche Leistungen ggf. zurückgefahren werden könnten.
Workshop Digitalisierungschancen – Verwaltung und Organisation: Welche Potenziale bieten digitale Technologien?
Im Workshop „Digitalisierungschancen in Verwaltung und Organisation“ wurden zwei Praxisbeispiele zur Einführung und Nutzung digitaler Prozesse aus dem Pflegebereich und der frühen Bildung vorgestellt.
Der Vortrag von Christian Potthoff zum Thema „(Team + Prozesse) + Digitalisierung = Zukunftsgestalter der Pflege der Diakonie Michaelshoven Pflege und Wohnen gGmbH“ stellte den Einsatz verschiedener KI-Systeme in der Pflege zur Unterstützung unterschiedlicher Arbeitsprozesse dar, darunter insbesondere die Dokumentation durch Spracheingabe. Entscheidend für eine als gewinnbringend und hilfreich empfundene Einführung digitalisierter Prozesse sei, zunächst die Abläufe in der Einrichtung gut zu strukturieren und eine anerkennungsbasierte Team- und Leitungskultur zu pflegen, und sodann zielgerichtet hinsichtlich der Bedeutung und Förderung KI-gestützter Systeme im beruflichen Arbeitsalltag zu kommunizieren und Mitarbeitenden wo immer möglich eine Mitgestaltung zu ermöglichen. So wurden für die Implementierung der Technologie zur Dokumentation durch Spracheingabe zusätzlich zur Schulung aller Mitarbeitenden einzelne Mitarbeitende als Coaches ausgebildet, um ihren Kolleg/innen im Sinne eines „Peer-to-Peer Learnings“ bei der Anwendung zur Seite stehen. Bereits 80 Prozent der Mitarbeitenden nutzten diese Technologie in der Diakonie Michaelshoven. Pro Pflegefachkraft würden damit pro Schicht ca. 20 Minuten an Zeit eingespart, die in der originären Pflege eingesetzt werden könnten.
Präsentation von Christian Potthoff
Lena Przibylla vom Zweckverband der Kitas im Erzbistum Berlin stellte das Projekt "Kita-Lab und Intranet: Auf dem Weg zur vernetzten Zusammenarbeit" vor. Beim Träger Hedi Kitas wurde ein vernetztes Intranet über Microsoft 365 in 73 Kindertageseinrichtungen in den Regionen Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern implementiert. Über das Intranet soll jede Fachkraft an allen Prozessen beteiligt werden, über Neuigkeiten informiert werden und durch die eigene Partizipation an den Prozessen mitgestalten können. Der Ansatz sieht auch vor, dass Informationen über die unterschiedlichen Endgeräte und Formate (audio, schriftlich etc.) jederzeit abrufbar sind. Im Rahmen des Vortrages wurde die Leitung der Kindertageseinrichtung als Schlüsselperson für die Einführung von digitalisierten Prozessen und Tools hervorgehoben. Außerdem wird für die Mitarbeitenden eine IT-Schulung unter Kolleg/innen durchgeführt und eine offene digitale Sprechstunde angeboten. Ziel der digitalen Vernetzung bei Hedi Kitas ist es beispielweise weniger E-Mails zu benutzen und Informationen zentral via Intranet zu übermitteln. Auch sollen über eine eigene Kita-Homepage Informationen vermittelt und mithilfe einer Eltern-App direkter und schneller kommuniziert werden. Ein Kita-Blog mit inhaltlichen Beiträgen zu aktuellen Themen rundet das Angebot ab.
Präsentation von Lena Przibylla
In der anschließenden Diskussion wurde erörtert, welche Visionen und Transferstrategien aus den vorgestellten Impulsreferaten auf andere soziale Berufsfelder übertragen werden könnten. Es wurde diskutiert, dass die gemeinsame Entwicklung und Implementierung digitalisierter Prozesse eine vielseitige Arbeitserleichterung bedeuten kann. Stichworte wie Vernetzung, Mitverantwortlichkeit und Entlastung und das gemeinsame Verständnis innerhalb einer Organisation wurden als bedeutsame Faktoren zusammengetragen. Für erfolgreiche Transferstrategien zur Implementierung digitaler Prozesse in sozialen Berufsfeldern könnte beispielweise auf multiprofessionelle Teams gesetzt werden. Diese Teams bringen unterschiedliche Perspektiven, Fachkenntnisse und Kompetenzen ein. Auch Multiplikator/innen können eine zentrale Rolle einnehmen, indem sie Wissen und Fähigkeiten im Bereich der Digitalisierung verbreiten und die Akzeptanz im Team steigern. Eine gründliche Analyse der Strukturen ist zudem notwendig, um den Bedarf an digitalen Prozessen zu ermitteln. Dabei sollten bestehende Arbeitsabläufe und die Bereitschaft zur Veränderung der Mitarbeitenden berücksichtigt werden. Es gilt, die Kompetenzen der Mitarbeitenden zu nutzen und besonders diejenigen mit Interesse und Motivation für Digitalisierung einzubinden. Dies kann auch zur langfristigen Fachkräftebindung beitragen. Klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind entscheidend für eine strukturierte und effiziente Umsetzung digitaler Prozesse. So kann sichergestellt werden, dass alle relevanten Aspekte abgedeckt und das digitale Innovationen in der Praxis erfolgreich realisiert werden können.
Workshop Fachkräftebindung – Onboarding, Arbeitskultur und Gesundheitsförderung: Wie können Mitarbeiter/innen gestärkt und gehalten werden
Brigitte Buermann-Gerdes (Leben mit Behinderung Hamburg) berichtete von der Personalstrategie „Besser mit Dir“, die wenige Jahre nach Einführung und Unterfütterung mit einer Projektstelle bereits Wirkung zeige: Die Anzahl der notwendigen Stellenbesetzungsverfahren sei um rund 50 Prozent gesunken. Das Programm mit den Handlungsfeldern Arbeitsumfang, Strukturen und Prozesse, Kommunikation und Information sowie Kompetenz ziele darauf, die Bindung der Mitarbeitenden über mehr Arbeitszufriedenheit zu stärken und dafür vor allem die Arbeitsbedingungen zu verbessern sowie mehr Gestaltungsspielräume und Beteiligungsmöglichkeiten für Mitarbeitende zu schaffen. Ein ganz wesentlicher Baustein sei dabei die systemische Führung mit Feedbackkultur, Beziehungspflege und grundsätzlich konstruktiver Haltung. Dafür wurden u.a. ein Mitarbeitendenportal, neue Einarbeitungsprozesse, Digitalisierung und Unterstützungsangebote für Gesundheit und soziale Beratungsmöglichkeiten eingeführt. In der Testphase befinde sich außerdem ein neues Ausfallmanagement mit Schattendiensten. Frau Buermann-Guerdes betonte, für das Gelingen der Strategie seien insbesondere kompetente Führungskräfte notwendig, die sich mit Wertschätzung und Interesse auf ihre Mitarbeitenden einlassen und in der Steuerung stark sind.
Präsentation von Brigitte Buermann-Gerdes
Wertschätzung steht auch im Zentrum des Konzepts der „Atmosphärische Führung als Schlüssel zur Arbeitsplatz Zufriedenheit“, von dem Claudia Manz-Knoll berichtete. Sie stellte die Organisationsstruktur der Nordpfälzer Glückskinder in ihrer Funktion einer pädagogischen Gesamtleitung vor, die als Besonderheit neben einer Fachbereichsleitung und den sogenannten Standortleitungen der Kitas, die Trägeraufgaben der Kitas und die Belange der pädagogischen Mitarbeitenden begleiten. Gelingende Personalbindung stellte sie mit Bezug auf das Konzept der „Atmosphärischen Führung“ vor: Dieses sei ein Schlüssel, um die Arbeitsplatzzufriedenheit zu erhöhen, positive Selbstwahrnehmung und Wertschätzung zu stärken, um dem „Jammertal und der Kitakrise“ mit professionellem Selbstverständnis zu begegnen. Als Kriterien für erfolgreiche Personalbindung und Arbeitsplatzzufriedenheit nannte sie eine gute Kommunikation und Koordination zwischen dem Träger, der pädagogischen Gesamtleitung und den Kitastandorten in einer Verantwortungsgemeinschaft im Sinne schneller Entscheidungswege sowie eines kontinuierlichen, offenen Dialoges auf Augenhöhe.
Konzepte zur Netzwerkarbeit und die Einführung von Konsultationskitas seien ebenfalls Schritte, die durch weitere Unterstützungsangebote der pädagogischen Gesamtleitung (z.B. bei Elterngesprächen, Team-Prozessbegleitungen, Konzeptionsentwicklung, Aufbau allgemeiner Konfliktlösungsstrategien, Mediationen) zur Entlastung im Kitasystem und damit zu höherer Arbeitszufriedenheit beitragen. Aktuell wurden weitere wertschätzende Projekte zum Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden eingeführt, wie z.B. Gesundheitskurse, Evaluationen zu Arbeitsplatzsicherheit und –schutzmaßnahmen, E-Bike-Förderung, bewegte Pausen und „Kita-Stammtische“.
Präsentation von Claudia Manz-Knoll
In der Diskussion mit den Teilnehmenden des Workshops stand die Perspektive von Führungskräften als Dreh- und Angelpunkt der Personalbindung im Mittelpunkt. Festgestellt wurde, dass Führungskräfte Raum benötigen zunächst für das Erlernen von Führungskompetenzen und später für die Erfüllung der gestiegenen Ansprüche an atmosphärischer bindungsorientierter Leitung. Eine wichtige Frage sei, wie der vielerorts wahrgenommenen abnehmende Motivation von Fachkräften, in Führungsverantwortung zu gehen, jenseits finanzieller Anreize begegnet werden könne.
Fishbowl-Diskussion: Strategien zum Umgang mit knappen personellen Ressourcen
In einer abschließenden Fishbowl-Diskussion wurden die wichtigsten Ergebnisse und Diskussionsstränge aus den Workshops gemeinsam erörtert und in einen größeren Rahmen gestellt.
So betonte Matthias Röder die Notwendigkeit struktureller Unterstützung bei neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern: „Wenn wir was ändern wollen, um mit weniger Personal ein funktionierendes Hilfesystem aufrecht zu erhalten, dann muss es neue, anders konfigurierte Leistungen geben, und die müssen verhandelt werden, die müssen die überhaupt mal definiert werden. Tatsächlich ist dabei die Situation der Leistungserbringer eine ganz zentrale. Ich glaube, am Ende muss dieser Transformationsprozess von beiden Seiten gut gesteuert und begleitet werden können. Und da fehlt es aus meiner Sicht ganz stark an einer strukturellen Unterstützung. Und die muss sehr konkret und sehr produktiv sein. Da wünsche ich mir, dass man da Forschungsinstitute mitbeteiligt, Rechtsinstitute mitbeteiligt, sodass wichtige Fragestellungen einfach mal geklärt sind, das muss nicht jeder für sich machen. Da könnte man zum Beispiel Mustervereinbarungen entwickeln. Und man braucht Plattformen, wo man sich austauschen kann in der Fallarbeit oder auch bei der Koordination von Leistungen über Instrumentarien, Erfahrungen, Unterstützungsmöglichkeiten usw. Weil auch eine bestimmte Geschwindigkeit braucht. Und was natürlich auch sehr hilft, ist so eine Tagung wie heute zum Beispiel, wo so viele Kompetenzen zusammenkommen.“ (Matthias Röder, Jugendamt Darmstadt-Dieburg)
Gaby Hagmanns, Direktorin der Caritas Frankfurt a. M. lenkte den Blick auf die anspruchsvolle Situation der leistungserbringenden Trägerstrukturen. Diese müssen laut Frau Hagmanns mannigfaltige Auflagen erfüllen, für die wir Personal- und Finanzressourcen benötigt werden. Dazu gehören auch arbeitsrechtliche Verpflichtungen, die teils nicht mit den Befristungsideen der Auftraggeber in Einklang bringen lassen. Angesichts der komplexen Aufgabenstellung betonte Frau Hagmanns die Rolle des Deutschen Vereins: „Wie können wir rechtliche Möglichkeiten noch besser überhaupt ausnutzen, Mut haben, Dinge erst mal zu tun? Wie können wir auch Aufgabenkritik betreiben, Bürokratieabbau endlich verwirklichen, etc. Und außerdem stellt sich doch die Frage, was wollen wir denn sozialpolitisch? Was ist denn unser Ziel? Und wie ist unsere Idee, die Angebote weiterzuentwickeln, so dass die Menschen vielleicht weniger institutionell und mehr im Sozialraum Unterstützung erfahren? Was sind da unsere Bilder?“ „Der Deutsche Verein ist die ideale Plattform, um diese komplexen Themen miteinander intelligent zu koordinieren. Weil halt öffentliche Träger auf allen Ebenen und freigemeinnützige Träger auf allen Ebenen hier zusammenkommen, im Deutschen Verein. Und wir einfach diese verschiedenen Aspekte betrachten können.“ (Gaby Hagmanns, Caritas Frankfurt a.M.)
Lena Przybilla vom Erzbistum Berlin sprach digitale Entlastungs- und Demokratisierungspotentiale an: „Und da haben wir einmal natürlich über diesen ganzen Bereich der Entlastung gesprochen, wo wir auch Ressourcen sparen können, über künstliche Intelligenz, auch im Bereich der Dokumentation, im Bereich Sprache, Robotik, aber auch über Professionalisierung im Bereich Qualitätsmanagement oder Ticketsysteme, E-Learning, das ganze Feld. Und das dritte große Feld ist die Information und Beteiligung der Mitarbeitenden. Und dass man auch mittels der digitaler Tools Strukturen schaffen kann, digitale Systeme, Intranet, Austauschformate, digitale Sprechstunden und so weiter, wo Menschen mit ihren Kompetenzen, mit ihren Interessen sich punktuell oder regelmäßig und weitgehend unbeeinflusst von hierarchischen Ebenen, die ja klassischerweise sonst sehr wirkmächtig sind.“ Sie zog ein optimistisches Fazit zu den auch durch den Personalmangel in Gang gesetzten Prozessen: „Ich würde mir wünschen, dass wir über die gleichen Dinge, über die wir heute gesprochen haben, egal ob es im Bereich der differenzierten Teamprofile ist oder auch im Bereich der Digitalisierung, darüber sprechen würden, wenn wir gar keine Personalnot hätten.“ (Lena Przibylla, Zweckverband der Kitas im Erzbistum Berlin)
Der die Veranstalter bedanken sich bei allen Teilnehmenden für ihr engagiertes Mitdiskutieren und werden die Ergebnisse der Tagung in ihre weiteren Strategien und Aktivitäten zum Umgang mit dem Personalmangel in sozialen Einrichtungen und Diensten einfließen lassen.